Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit: Realität jenseits von „Milchmädchenrechnungen und Schönwetter-Statistiken“

Schön-rechnen
Milchmädchenrechnungen und Schönwetterstatistiken gehören zum festen Bestandteil der Nachhaltigkeitsdebatte. Oft klaffen Welten zwischen vermeintlich erzielten Fortschritten/Einsparungen und der Realität. Selbst Umweltverbände rechnen sich die Wirklichkeit mit theoretisch erzielbaren Einsparungen beim Ressourcenverbrauch schön. Wie viele Tonnen Kohlendioxid sind hier nicht schon eingespart worden? So wichtig ein Umdenken – und Umsetzen! –  in diesem Bereich ist, aber die Realität sieht bislang eher mager aus.

Rebound-Effekt als „Störfaktor“
Gravierend ist ein Faktor, der sich weitgehend jeder soliden Berechnung entzieht. Die Wissenschaft bezeichnet ihn als ‚Rebound-Effekt‘. Er besagt, dass sich Einsparungen durch technische Innovationen ‚gesetzmäßig‘ über gegenläufige Entwicklungen erheblich verringern. So nahm der CO2-Ausstoß in Deutschland bei der Stromerzeugung zwischen 2000 und 2010 nicht um die erwarteten 10 Prozent ab, sondern sank nur um magere 3,9 Prozent. Der Grund: Stromverbrauch und Stromexporte legten gleichfalls zu. Der Pro-Kopf-Ausstoß sank zwischen 1995 und 2005 zwar leicht von 10,5 auf 9,7 Tonnen. Bezieht man jedoch die gestiegenen Importe von Konsumartikeln ein, ist er in Wirklichkeit angestiegen. Stattgefunden hat eine Verlagerung ins Ausland.
Die Feststellung einer vom Wuppertal Institut veröffentlichten Arbeit zu den Auswirkungen des Rebound-Effektes auf die Klimaziele ist ernüchternd: Die Verminderung der Treibhausgasemissionen um 80 Prozent bis 2050 allein durch Technik sei vor diesem Hintergrund „unerreichbar“. Höchstens die Hälfte des „theoretischen Einsparpotenzials“ ließe sich in der Praxis erreichen. „Mitunter auch weniger“.

Selbst die Wissenschaft hat große Schwierigkeiten den Effekt zu berechnen und ihn in ihre Prognosen einzubeziehen. Auch der Weltklimarat (IPCC) ignoriert das Phänomen, obwohl es bereits 1865 erstmals untersucht wurde.

Inkonsequentes Konsumverhalten
Finanzielle Einsparungen führen dazu, dass ‚mehr vom Gleichen‘ verbraucht wird – das erscheint logisch. Der schrittweise Rückzug energiefressender Glühbirnen zugunsten energiesparender Leuchtmittel verringert unbestritten den Energieverbrauch. Doch ist die Versuchung groß, mehr Lampen zu benutzen oder diese länger brennen zu lassen. Mögliche Einspareffekte werden erheblich gemindert:

So hat die Rheinbahn am Aachener Platz die bislang spärliche Beleuchtung durch insgesamt 14 ‚energiesparende‘ Lichtsäulen ersetzt. Die meisten dürften den Effekt auch aus ihren eigenen vier Wänden kennen! Auch auf anderem Gebiet: Bei den Heizkosten neutralisieren sich Wärmedämmung und größerer Wohnraum. Personenbezogen blieb der Raumwärmebedarf seit 1970 konstant!
Auch die Psychologie macht uns einen Strich durch die Rechnung. Hat die Werbung den Umweltschutz als Verkaufsargument längst entdeckt, spielen sich auch in unserem Kopf die merkwürdigsten Dinge ab. Beispiel Müll: So stieg die Recyclingquote innerhalb von elf Jahren zwar um 13 Prozent (1994-2005), gleichzeitig wurde die Müllvermeidung aber nahezu eingestellt. Der Müllberg selbst schrumpfte um zu vernachlässigende zwei Prozent. Ökologisch bewusst nutzen wir die Gelbe Tonne. Doch der Plastikmüll in deren Bauch wuchs derweil um mehr als 70 Prozent. Bei gleichbleibend niedriger Recyclingquote von 50 Prozent. Wie wir mit gutem Gewissen häufig sogar stärker zur Umweltverschmutzung beitragen, zeigt eine Untersuchung aus Japan: Autofahrer, die sich ein Hybridfahrzeug angeschafft hatten legten anschließend das 1,6fache an Kilometern zurück und verbrauchten somit mehr Benzin als vorher!

Denkstrukturen überholen
Schlechte Aussichten für die Vorstellung, wirtschaftliches Wachstum und Naturverbrauch ließen sich entkoppeln. Nichts deute darauf hin, dass die Menschheit den Treibhausgas-Ausstoß in den Griff bekomme, warnt die Weltbank vor den katastrophalen Folgen der Erderwärmung. Ohne grundlegende Veränderungen unserer Konsumgesellschaft lässt sich das Dilemma nicht lösen.

Ohnehin grenzt es an Ideologie davon auszugehen, technische Entwicklungen seien Voraussetzung für eine nachhaltige Gesellschaft. Zehntausende von Jahren waren wir, von einzelnen Ausreißern abgesehen, sehr wohl in der Lage nachhaltig im Kontext mit der Natur zu leben. Erst die Industrialisierung hat uns den Fortschritt ermöglicht, dass wir nunmehr sogar in der Lage sind, unsere eigenen Existenzbedingungen auf diesem Planeten zu untergraben. „Man kann ein Problem nicht mit den gleichen Denkstrukturen lösen, die zu seiner Entstehung beigetragen haben.“ Albert Einstein mahnt, uns nicht länger mit technischen Milchmädchenrechnungen zu begnügen, die nicht aufgehen, sondern neue Wege zu suchen.

 

Quelle:
Netzwerk Öko Soziale Entwicklung, Autor Jörn Wiertz.

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